
SOS.NRW PLATTFORM
SOS Psychologische Unterstützung
für Einsatzkräfte und Angehörige
Eine Initiative der westfäischen Akademie
für Psychosoziale Notfallversorgung
WESTFÄLISCHE
AKADEMIE FÜR
PSYCHOSOZIALE
NOTFALLVERSORGUNG

Modelle und Konzepte der Krisenintervention
Strukturelle Orientierung in akuten Ausnahmesituationen
In der psychosozialen Arbeit mit Menschen in akuten Belastungslagen braucht es nicht nur Mitgefühl und Erfahrung, sondern auch theoretische Modelle, die Orientierung und Handlungssicherheit geben. Modelle der Krisenintervention sind keine starren Rezepte, sondern dynamische Denkrahmen. Sie helfen Fachpersonen aus Medizin, Psychologie, Pflege und Sozialarbeit dabei, das komplexe Geschehen einer Krise verstehbar zu machen und angemessene Interventionen systematisch zu planen. Zwei besonders praxiserprobte Modelle sind das sogenannte ABC-Modell sowie das Phasenmodell der Krisenverarbeitung. Beide eröffnen unterschiedliche Perspektiven auf das Krisenerleben und ergänzen sich in der Anwendung.
Das ABC-Modell der Krisenintervention
Ein Zugang über Affekt, Verhalten und Kognition
Das ABC-Modell ist ein strukturierendes Rahmenmodell, das drei zentrale Bereiche menschlicher Reaktion differenziert: Affekt (Gefühle), Behavior (Verhalten) und Cognition (Denken). Es basiert auf der Annahme, dass Krisenzustände nicht eindimensional erfasst werden können, sondern ein Zusammenspiel emotionaler, kognitiver und verhaltensbezogener Prozesse darstellen. Für die psychosoziale Notfallversorgung bietet dieses Modell eine klare Orientierung, um in akuten Situationen eine differenzierte Einschätzung vornehmen und gezielte Interventionen einleiten zu können.
A – Affekt: Emotionale Reaktionen verstehen
Der affektive Bereich beschreibt die emotionale Reaktion der betroffenen Person. Dazu zählen intensive Gefühle wie Angst, Scham, Schuld, Wut, Hilflosigkeit oder Verzweiflung. In Krisen können diese Emotionen überwältigend auftreten, sich rasch verändern oder durch Dissoziation sogar vorübergehend unzugänglich erscheinen. Die Aufgabe der Helfenden besteht darin, Emotionen einfühlsam wahrzunehmen, zu spiegeln und in Worte zu fassen. Emotionaler Ausdruck wird weder forciert noch bewertet, sondern ermöglicht. Ziel ist die Entlastung durch Resonanz und die behutsame Förderung emotionaler Selbstregulation.
B – Behavior: Verhaltensmuster beobachten
Der behaviorale Bereich bezieht sich auf das sichtbare Verhalten der betroffenen Person. In Krisen können sich plötzlich neue oder auffällige Verhaltensweisen zeigen, etwa motorische Unruhe, Rückzug, Aggression, Vermeidung, Appetit- oder Schlafstörungen, selbstschädigendes Verhalten oder riskante Impulsdurchbrüche. Helfende beobachten solche Veränderungen nicht wertend, sondern verstehend. Das Verhalten wird als Ausdruck innerer Not interpretiert. Ziel ist es, durch gezielte Maßnahmen Stabilität, Orientierung und Handlungsspielraum wiederherzustellen.
C – Cognition: Denkmuster erkennen und neu strukturieren
Der kognitive Bereich umfasst die inneren Überzeugungen, Bewertungen und Denkmuster der betroffenen Person. In Krisen neigen Menschen zu verzerrtem oder rigidem Denken. Dazu gehören katastrophisierende Gedanken, Schuldzuweisungen, das Gefühl persönlicher Ohnmacht oder der Verlust grundlegender Lebensannahmen. Die Krisenintervention versucht hier nicht, vorschnell umzustrukturieren, sondern Raum für Reflexion zu eröffnen. Langfristiges Ziel ist die Stärkung realistischer, selbstwirksamer Gedankenmuster, um einen inneren Neubeginn zu ermöglichen.
Das ABC-Modell betont die Wechselwirkung zwischen Gefühl, Verhalten und Denken. Es ermöglicht Fachkräften eine differenzierte Einschätzung des Krisenerlebens und legt die Basis für individualisierte, ganzheitliche Interventionen.
Das Phasenmodell der Krisenverarbeitung
Ein dynamischer Verlauf mit Orientierungspunkten
Das Phasenmodell der Krisenverarbeitung beschreibt den Verlauf seelischer Reaktionen in mehreren zeitlichen Abschnitten. Es geht davon aus, dass Krisen kein statisches Ereignis sind, sondern ein innerer Prozess mit charakteristischen Übergängen. Die Einteilung in Phasen dient nicht der Schematisierung, sondern der Orientierung. Sie hilft Fachkräften dabei, die situative Verfassung der betroffenen Person besser einzuschätzen und den jeweiligen Unterstützungsbedarf passgenau zu adressieren. Die Phasen können individuell unterschiedlich durchlaufen werden und sind nicht immer klar voneinander zu trennen.
1. Konfrontationsphase – Der Bruch mit der Normalität
Diese Phase beginnt unmittelbar mit dem Eintreten des kritischen Ereignisses. Die Welt der betroffenen Person wird erschüttert. Häufig treten Schock, Verleugnung, emotionale Taubheit oder extreme Alarmzustände auf. Körperlich können Symptome wie Zittern, Herzrasen, Übelkeit oder Erstarrung auftreten. Ziel der Krisenintervention in dieser Phase ist Schutz, Beruhigung und eine klare, strukturierte Ansprache. Die betroffene Person soll spüren, dass sie gehalten wird, ohne überfordert zu werden.
2. Reaktionsphase – Emotionale Entladung und Desorientierung
In dieser Phase brechen oft starke Gefühle auf. Verzweiflung, Wut, Schuld, Angst oder tiefe Trauer können in Wellen auftreten. Viele Menschen erleben innere Ambivalenz, Stimmungsschwankungen oder einen Wechsel zwischen Aktivität und Erschöpfung. Die kognitive Verarbeitung ist oft erschwert. Krisenhelferinnen und Krisenhelfer sind jetzt vor allem gefordert, präsent zu sein, Raum für Ausdruck zu geben und emotionale Prozesse zu begleiten, ohne sie zu steuern. Orientierung durch einfache Fragen oder das Angebot konkreter Hilfe kann stabilisierend wirken.
3. Bewältigungsphase – Erste Neuorientierung
In dieser Phase beginnt die betroffene Person, sich mit der veränderten Realität auseinanderzusetzen. Noch steht sie unter Belastung, doch erste Verarbeitungsprozesse werden sichtbar. Neue Strategien, Perspektiven oder Sinnfragen treten in den Vordergrund. Die Krise wird nicht mehr nur als Bedrohung erlebt, sondern kann – vorsichtig – als Wendepunkt begriffen werden. Die Aufgabe der Krisenintervention liegt nun darin, Ressourcen zu stärken, Handlungsspielräume zu fördern und Selbstwirksamkeit zu stabilisieren.
4. Anpassungsphase – Integration und Neuaufbau
In der letzten Phase kommt es zur allmählichen Integration der Krise in das eigene Lebensnarrativ. Die Ereignisse sind nicht vergessen, aber sie verlieren ihre akute Bedrohung. Menschen können neue Werte entwickeln, Sinn entdecken oder ihr Selbstbild differenzierter gestalten. Auch körperlich und sozial beginnt ein neuer Alltag. Die Begleitung in dieser Phase kann helfen, Rückfälle zu vermeiden, innere Erkenntnisse zu festigen und Wachstum zu unterstützen, ohne die Verletzlichkeit zu leugnen.
Anwendung in der Praxis
Beide Modelle – das ABC-Modell und das Phasenmodell – sind keine Konkurrenz, sondern komplementäre Werkzeuge. Während das ABC-Modell vor allem im akuten Moment hilft, das aktuelle Erleben zu erfassen, erlaubt das Phasenmodell eine längerfristige Orientierung. Gemeinsam ermöglichen sie eine professionelle Haltung, die sich nicht an Symptomen, sondern an der Subjektivität und Würde des Menschen orientiert.
Fachliteratur zum ABC-Modell der Krisenintervention
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Carkhuff, Robert R. (2000):
The Art of Helping in the 21st Century. Amherst, MA: HRD Press.
ISBN: 978-0874255986
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Kanel, Kristi (2018):
A Guide to Crisis Intervention. 6th Edition. Boston: Cengage Learning.
ISBN: 978-1337566414
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Aguilera, Donna C.; Messick Keele, Janice (1990):
Crisis Intervention: Theory and Methodology. 6th Edition. St. Louis: Mosby.
ISBN: 978-0801627082
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Wiesner, Günter; Schröder, Hans (2002):
Krisenintervention in der psychiatrischen Praxis. Stuttgart: Thieme Verlag.
ISBN: 978-3131276911
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Reimer, David; Schuchardt, Michael (Hrsg.) (2015):
Krisenintervention in Theorie und Praxis: Grundlagen – Methoden – Perspektiven. Weinheim: Beltz Juventa.
ISBN: 978-3779922622
Fachliteratur zum Phasenmodell der Krisenverarbeitung
-
Caplan, Gerald (1964):
Principles of Preventive Psychiatry. New York: Basic Books.
ISBN: 978-0465067544
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Cullberg, Johan (1993):
Krisen und Entwicklung: Eine psychodynamische und sozialpsychiatrische Studie. München: Piper Verlag.
ISBN: 978-3492045092
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Horowitz, Mardi J. (1997):
Stress Response Syndromes: PTSD, Grief, and Adjustment Disorders. Northvale: Jason Aronson.
ISBN: 978-0765700293
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Böker, Heinz; Rüesch, Peter (2010):
Psychiatrie – Ein Lehrbuch für Studium und Praxis. 2. Auflage. Bern: Hans Huber Verlag.
ISBN: 978-3456836530
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Fischer, Gerhard; Riedesser, Peter (2009):
Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Ernst Reinhardt Verlag.
ISBN: 978-3497018282
-
WHO (2011):
Psychological First Aid: Guide for Field Workers. Geneva: World Health Organization.
ISBN: 978-9241548205