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Dissoziation unter Belastung | Neurobiologische Hintergründe und funktionale Bedeutung im Einsatzgeschehen

  • Autorenbild: Nic
    Nic
  • 1. Juni
  • 4 Min. Lesezeit

Dissoziation

Dissoziative Prozesse stellen eine adaptive Reaktionsform des zentralen Nervensystems dar, die bei akuter psychophysischer Überforderung als temporärer Schutzmechanismus aktiviert wird. Dabei kommt es zu einer funktionalen Entkopplung einzelner Bewusstseinsanteile, etwa im Bereich der Wahrnehmung, der affektiven Verarbeitung oder der Ich-Kohärenz. Der Begriff bezeichnet keine einheitliche Störung, sondern ein Spektrum neurologisch fundierter Dissoziationsphänomene, die von einer subklinischen Veränderung der Selbstwahrnehmung bis hin zu tiefgreifenden Fragmentierungen der Erlebnisverarbeitung reichen können. Besonders im Kontext von Einsätzen mit hochsensorischer Belastung, moralischem Stress und subjektiver Kontrollaufgabe wird Dissoziation als letzte noch verfügbare Schutzfunktion aktiviert, wenn alle intentionalen Bewältigungsstrategien versagen.


Neurobiologisch liegt der Fokus auf den Strukturen des limbischen Systems¹, insbesondere der Amygdala², dem Hippocampus³ und dem periaquäduktalen Grau⁴. Die Amygdala registriert Gefahr und initiiert über hypothalamische Pfade eine neuroendokrine Stressantwort. Wird die wahrgenommene Bedrohung als unentrinnbar kodiert, reagiert der dorsale Vaguskomplex⁵ mit einer evolutionär tief verankerten Immobilitätsantwort¹¹. In diesem Zustand wird der präfrontale Kortex¹⁰ in seiner modulierenden Funktion deaktiviert, was eine drastische Einschränkung der Handlungs- und Steuerungskapazität zur Folge hat. Das Bewusstsein fokussiert sich nicht mehr auf Realitätsprüfung oder soziale Kommunikation, sondern zieht sich in eine Form psychischer Autonomie zurück, die einer Notabschaltung ähnelt.


Diese Notabschaltung kann unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen. Depersonalisation⁶ und Derealisation⁷ zählen zu den häufigsten Phänomenen. Bei der Depersonalisation erleben Betroffene ihren eigenen Körper als fremd, taub oder automatisiert. In der Derealisation wird die Umwelt als entrückt, distanziert oder unwirklich erfahren. Zusätzlich kann es zu retrograden Amnesien⁸, Sprachstörungen, motorischen Automatismen oder expressiven Blockaden kommen. Diese Symptome spiegeln keinen Motivationsverlust, sondern eine tiefgreifende Dysregulation neurokognitiver Integrationsprozesse. Die dominierende Aktivität im parasympathischen System kann sich somatisch in Form von Hypotonie⁹, Bradykardie, muskulärer Erschlaffung oder eingeschränkter respiratorischer Dynamik manifestieren.

Für das Einsatzgeschehen sind diese dissoziativen Zustände von diagnostischer, prognostischer und interventioneller Relevanz. Sie treten nicht ausschließlich bei primär Betroffenen auf, sondern können auch Helfende erfassen, insbesondere unter Bedingungen sekundärer Traumatisierung oder moralischer Dissonanz. Im klinischen Alltag werden dissoziative Phänomene jedoch häufig übersehen, fehlinterpretiert oder als Unkooperativität missverstanden. Die externalisierte Symptomatik bleibt nonverbal, leise, vermeintlich funktional, verwechselt mit Resignation oder Dissozialität. Diese Fehldeutungen führen zu einer inadäquaten Reaktion, die nicht nur wirkungslos bleibt, sondern die Vulnerabilität der betroffenen Person weiter erhöht.


Funktionell ist Dissoziation nicht als pathologische Entgleisung zu interpretieren, sondern als neurobiologisch verankerter Selbstschutz, der das fragile psychische Gleichgewicht unter extremen Reizkonstellationen temporär aufrechterhält. Sie erlaubt dem Subjekt, das Geschehen innerlich auf Distanz zu halten, ohne vollständig zu dekompensieren. Die Integrität des Ich bleibt im Kern erhalten, obwohl sie in diesem Moment nicht bewusst zugänglich ist. Erst mit Rückkehr stabiler Umweltbedingungen, sozialer Resonanz und somatischer Reorientierung kann sich das dissoziierte Erleben allmählich reintegrieren. Diese Reintegrationsprozesse sind jedoch störanfällig und bedürfen sowohl fachlicher Unterstützung als auch einer entpathologisierenden Grundhaltung.


In der Psychologischen Ersten Hilfe stellt die korrekte Erkennung dissoziativer Zustände eine zentrale Kompetenz dar. Indikatoren sind unter anderem plötzliche Blickfixierung ohne Reaktion, stumme Anspannung, verlangsamte Sprache, fehlende Reaktion auf situative Reize oder stereotype Bewegungsmuster. In der Interaktion sollte eine klare, einfache und strukturierende Sprache verwendet werden. Elemente der Reorientierung wie die Benennung von Ort und Zeit, vorsichtige sensorische Reize¹² sowie kontrollierte Atmung unterstützen die Rückbindung an das Hier und Jetzt. Auf verbale Konfrontation oder übermäßige Aktivierung ist zu verzichten, da diese das dissoziative System weiter destabilisieren können. Ziel ist nicht die sofortige Wiederherstellung der kognitiven Kontrolle, sondern die sukzessive Ermöglichung psychophysischer Kohärenz.


Die Bedeutung dissoziativer Reaktionen wird auch in internationalen Empfehlungen betont: Der WHO-Leitfaden „Psychological First Aid“ beschreibt klar, wie wichtig Orientierung, Sicherheit und ein entpathologisierender Zugang bei der Stabilisierung sind. Auch der Leitfaden zur Psychosozialen Notfallversorgung des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe fordert, auf individuelle Reaktionen achtsam und nicht wertend zu reagieren. Beide betonen, dass Struktur, Zeit und achtsame Präsenz wesentliche Schutzfaktoren darstellen.


Auch auf der Ebene institutioneller Nachsorge ist die differenzierte Betrachtung dissoziativer Prozesse unerlässlich. In standardisierten Protokollen psychosozialer Notfallversorgung sollten Handlungsempfehlungen für den Umgang mit dissoziativen Episoden enthalten sein. Dies betrifft sowohl den Sprachgebrauch als auch die Vermeidung stigmatisierender Zuschreibungen. Betroffene benötigen in der Phase nach dem akuten Ereignis nicht vorrangig therapeutische Konfrontation, sondern Struktur, emotionale Sicherheit und ein professionelles Setting, das die Bedeutung dieser Reaktion versteht. Die Überführung dissoziativer Erlebnisse in das autobiografische Gedächtnis ist dabei kein linearer Prozess, sondern eine achtsame, integrative Aufgabe, die das subjektive Zeiterleben ebenso berücksichtigt wie die vegetative Restaktivität.

Die Kenntnis dissoziativer Mechanismen gehört zum Kernbestand psychotraumatologischer Handlungssicherheit. Dissoziation ist nicht Ausdruck psychischer Schwäche, sondern ein Ausdruck neurobiologischer Intelligenz. Ihre Erkennung verlangt Aufmerksamkeit, ihre Behandlung Respekt. Nur wer ihre Funktion versteht, kann helfen, ohne zu verletzen.



Fußnoten

¹ Limbisches System: Funktionseinheit im Gehirn,

die emotionale Reize verarbeitet und vegetative Reaktionen steuert

² Amygdala: Mandelkern im Gehirn, zuständig für die emotionale Bewertung von Reizen

³ Hippocampus: Hirnstruktur, die für Gedächtnisbildung und räumliche Orientierung verantwortlich ist

⁴ Periaquäduktales Grau: Hirnstammregion,

beteiligt an der Koordination von Schmerzunterdrückung und Abwehrverhalten

⁵ Dorsaler Vaguskomplex: Teil des Parasympathikus,

vermittelt bei Überstimulation eine lähmungsartige Reaktion

⁶ Depersonalisation: Gefühl, vom eigenen Körper oder Selbst getrennt zu sein

⁷ Derealisation: Empfinden, dass die Umgebung unwirklich oder fremd erscheint

⁸ Amnesie: Gedächtnislücke für einen bestimmten Zeitraum oder ein belastendes Ereignis

⁹ Hypotonie: Abnorm niedriger Blutdruckzustand

¹⁰ Präfrontaler Kortex: Stirnhirnbereich, zuständig für Planung, Emotionsregulation und Impulskontrolle

¹¹ Immobilitätsantwort: Erstarrungsreaktion bei maximaler Bedrohung, neurovegetativ vermittelt

¹² Sensorische Reize: Reize, die über Sinnesorgane aufgenommen und

verarbeitet werden, z. B. Geräusche, Licht, Berührung



Literaturverzeichnis

American Psychiatric Association (2022): Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5-TR). 5. überarb. Revision. American Psychiatric Publishing, Washington, DC. ISBN 978-0-89042-575-6


Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (2014): Leitfaden PSNV – Psychosoziale Notfallversorgung im Bevölkerungsschutz. 2. Auflage. BBK, Bonn


Fischer, Gottfried; Riedesser, Peter (2009): Lehrbuch der Psychotraumatologie. Ernst Reinhardt Verlag, München. ISBN 978-3-497-02164-8


Lanius, Ruth A.; Frewen, Paul A. (2015): Neurobiology and Treatment of Traumatic Dissociation. Toward an Embodied Self. Springer, New York. ISBN 978-1-4614-6330-5


Scaer, Robert C. (2013): The Body Bears the Burden. Trauma, Dissociation, and Disease. 3rd Edition. Routledge, New York. ISBN 978-0-415-67042-1


Schauer, Maggie; Neuner, Frank; Elbert, Thomas (2011): Narrative Expositionstherapie. Ein manualisiertes Behandlungsverfahren für traumatisierte Flüchtlinge. Schattauer Verlag, Stuttgart. ISBN 978-3-7945-2755-3


van der Kolk, Bessel A. (2014): Verkörperter Schrecken. Trauma, Gehirn und Körper in der Behandlung von Traumafolgen. Kösel Verlag, München. ISBN 978-3-466-31092-0


World Health Organization (2011): Psychological First Aid: Guide for Field Workers. WHO Press, Geneva. ISBN 978-92-4-154820-5

 
 

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