Zwischen Einsatz und Erholung
- Nic

- 26. Okt.
- 3 Min. Lesezeit

Warum Regeneration kein Luxus ist
Zwischen Einsatz und Erholung. Professionelles Handeln im Einsatz endet nicht mit der letzten Maßnahme. Die Qualität einer Organisation zeigt sich auch in der Fähigkeit, nach Belastung wieder in Balance zu kommen. Erholung ist keine Schwäche, sondern eine biologische und psychologische Notwendigkeit. Sie entscheidet über Leistungsfähigkeit, Konzentration und langfristige Gesundheit. Dennoch wird sie im Selbstverständnis vieler Einsatzkräfte bis heute unterschätzt.
Während eines Einsatzes aktiviert sich das sympathische Nervensystem¹. Der Organismus wird auf Alarmbereitschaft eingestellt, Herzfrequenz und Blutdruck steigen, Aufmerksamkeit und Muskelspannung nehmen zu. Gleichzeitig hemmt der Körper alle nicht unmittelbar überlebenswichtigen Prozesse. Verdauung, Immunabwehr und Schlafregulation treten zurück, um kurzfristig Energie bereitzustellen². Diese Reaktion ist evolutionär sinnvoll, führt aber bei fehlender Erholung zu einer chronischen Überlastung.
Bleibt der Wechsel in die Regenerationsphase aus, entsteht eine dauerhafte Aktivierung, die als Allostatic Load³ bezeichnet wird. Dabei ist der Körper weiterhin auf Belastung programmiert, obwohl die äußere Gefahr längst vorbei ist. Cortisolspiegel und Herzfrequenzvariabilität verändern sich, emotionale Reizbarkeit und Erschöpfung nehmen zu. Auf Dauer drohen Schlafstörungen, Konzentrationsdefizite und psychosomatische Beschwerden.
Erholung ist ein aktiver Vorgang. Sie erfordert den bewussten Übergang vom sympathischen in den parasympathischen Zustand⁴. Erst wenn der sogenannte Ruhemodus aktiviert ist, können Körper und Psyche regenerieren. Dies gelingt nicht automatisch, sondern muss trainiert werden. Techniken wie Atemlenkung, progressive Muskelentspannung oder kontrollierte Bewegung fördern die Aktivierung des Vagusnervs und damit den biologischen Gegenspieler des Stresses.
Auf psychischer Ebene bedeutet Regeneration, Eindrücke zu verarbeiten und emotionale Kohärenz wiederherzustellen. Nachbesprechungen⁵, kollegiale Gespräche oder strukturierte Reflexionen tragen dazu bei, Belastungserfahrungen zu ordnen. Wichtig ist die Regelmäßigkeit. Häufige kurze Erholungsimpulse sind wirksamer als seltene lange Pausen. Der Organismus lernt, zwischen Anspannung und Entlastung zu wechseln.
Erholung ist nicht nur eine individuelle Aufgabe. Sie ist auch eine organisatorische Verantwortung. Fehlende Pausen, unklare Einsatzrhythmen oder zu hohe Verdichtungen verhindern eine nachhaltige Leistungsfähigkeit. Eine funktionale Fürsorgepolitik umfasst daher immer auch ein planvolles Erholungsmanagement⁶. Führungskräfte haben die Aufgabe, Ruhezeiten zu schützen, Nachsorge zu ermöglichen und eine Kultur der Selbstfürsorge zu fördern.
Besonders sensibel ist der Moment nach Dienstende. Viele Einsatzkräfte berichten von innerer Unruhe, Antriebslosigkeit oder emotionaler Leere. Das Nervensystem benötigt Zeit, um von der Einsatzlogik auf den privaten Modus umzuschalten. Hilfreich sind einfache Übergangsrituale⁷ wie das bewusste Ablegen der Uniform, ein Gespräch im Team oder ein kurzer Spaziergang vor der Heimkehr. Solche Handlungen markieren den psychischen Schnitt zwischen Anforderung und Entlastung.
Langfristig entsteht Gesundheit durch Balance. Eine Organisation, die Regeneration als Teil professioneller Haltung versteht, schützt nicht nur ihre Einsatzkräfte, sondern auch die Qualität ihrer Hilfeleistung. Erholung ist keine Pause vom Beruf, sondern Teil des Berufs. Sie ist Fürsorge, Prävention und Ausdruck gelebter Professionalität.
Fußnoten
¹ Sympathisches Nervensystem: Teil des vegetativen Nervensystems, das unter Belastung aktiviert wird und körperliche Energiereserven mobilisiert.
² Physiologische Priorisierung: Unter Stress werden regenerative Prozesse wie Verdauung oder Zellreparatur gehemmt, um kurzfristige Leistungssteigerung zu ermöglichen.
³ Allostatic Load: Begriff für die kumulative Belastung durch wiederholte oder dauerhafte Stressreaktionen, die biologische Systeme langfristig schädigen können.
⁴ Parasympathischer Zustand: Entspannungsmodus des vegetativen Nervensystems, der Erholung, Ruhe und Verdauung ermöglicht.
⁵ Nachbesprechung: Strukturierte Reflexion eines Einsatzes, dient der psychischen Verarbeitung und der Teamentwicklung.
⁶ Erholungsmanagement: Organisatorische Gestaltung von Ruhezeiten, Supervision und Nachsorge zur Prävention von Erschöpfung und Fehlerhäufung.
⁷ Übergangsrituale: Symbolische Handlungen, die den Wechsel von der Einsatz- zur Privatrolle markieren und emotionale Distanz schaffen.
Literaturverzeichnis
Arnsten, Amy F. T.Stress signalling pathways that impair prefrontal cortex structure and function. In: Nature Reviews Neuroscience, Band 10, Heft 6, 2009, S. 410–422.
Bandura, AlbertSelf-Efficacy. The Exercise of Control. W. H. Freeman and Company, New York 1997, ISBN 978-0-7167-2850-4.
BBK – Bundesamt für Bevölkerungsschutz und KatastrophenhilfePsychosoziale Unterstützung im Bevölkerungsschutz. Empfehlungen für Trägerorganisationen. Bonn 2022.
Bonanno, George A.Loss, trauma, and human resilience. In: American Psychologist, Band 59, Heft 1, 2004, S. 20–28.
Lazarus, Richard S. / Folkman, SusanStress, Appraisal, and Coping. Springer Publishing Company, New York 1984, ISBN 978-0-8261-4191-0.
McEwen, Bruce S.Protective and damaging effects of stress mediators. In: New England Journal of Medicine, Band 338, 1998, S. 171–179.
Sapolsky, Robert M.Why Zebras Don’t Get Ulcers. 3. Auflage, Holt Paperbacks, New York 2004, ISBN 978-0-8050-7369-0.
Siegrist, JohannesArbeitsstress und Gesundheit. In: Psychologische Rundschau, Band 56, Heft 3, 2005, S. 150–158.
Stamm, Beth HudnallThe Concise ProQOL Manual. 2. Auflage, Pocatello 2010.
Thayer, Julian F. / Lane, Richard D.A model of neurovisceral integration in emotion regulation and dysregulation. In: Journal of Affective Disorders, Band 61, Heft 3, 2000, S. 201–216.
WHO – World Health OrganizationGuidelines for Stress Management in Emergency Responders. Genf 2019.




