MHPSS... Was steckt dahinter?
- Nic
- 7. Juni
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Die Integration psychischer und psychosozialer Unterstützungsansätze in komplexe Notfall- und Katastrophensettings stellt eine der grundlegenden Herausforderungen für moderne Gesundheits- und Hilfssysteme dar. Der Begriff MHPSS hat sich dabei als internationales Referenzkonzept etabliert, das verschiedene Ebenen und Dimensionen von Interventionen unter einem gemeinsamen Rahmen zusammenführt. MHPSS steht für Mental Health and Psychosocial Support, also für die Gesamtheit psychischer Gesundheitsförderung und psychosozialer Unterstützungsmaßnahmen in Krisen- und Katastrophenkontexten. Die Inhalte und Strukturen von MHPSS reichen dabei von niedrigschwelliger Unterstützung über gemeindebasierte Ansätze bis hin zu spezialisierten medizinisch-psychotherapeutischen Interventionen.
Ursprünglich im Rahmen internationaler humanitärer Hilfe entwickelt, hat MHPSS sich inzwischen auch in nationalen Notfallstrukturen etabliert und bildet die konzeptionelle Grundlage für viele moderne Programme der psychosozialen Notfallversorgung. Die präzise begriffliche Differenzierung, die Verortung der verschiedenen Ebenen sowie die Integration in nationale Gesundheits- und Hilfssysteme sind dabei von erheblicher Bedeutung. Dieser Artikel erläutert das Konzept von MHPSS in seiner historischen Entwicklung, beschreibt die verschiedenen Bereiche und Ebenen, definiert die Zielsetzungen und beleuchtet beispielhaft die Umsetzung im deutschen sowie im internationalen Kontext.
Die Wurzeln des MHPSS-Ansatzes liegen in den Erfahrungen der humanitären Hilfsorganisationen während komplexer Notlagen und Krisen, insbesondere seit den 1990er Jahren. Der Begriff wurde zunächst im Rahmen der internationalen Zusammenarbeit durch Organisationen wie die WHO, IFRC, UNHCR und UNICEF operationalisiert. MHPSS umfasst dabei explizit sowohl Maßnahmen zur Förderung psychischer Gesundheit¹ als auch zur Stärkung psychosozialer Ressourcen² in betroffenen Bevölkerungen. Diese doppelte Fokussierung unterscheidet MHPSS von rein psychiatrisch oder psychotherapeutisch orientierten Ansätzen und betont die Notwendigkeit eines integrativen, interdisziplinären und kultursensiblen Zugangs.
Das MHPSS-Konzept basiert auf einer mehrstufigen Struktur. Auf der grundlegendsten Ebene stehen Interventionsformen, die darauf abzielen, grundlegende Sicherheit, Stabilität und soziale Integration zu gewährleisten. Hierzu gehören u.a. der Zugang zu Basisdiensten, die Wiederherstellung von Gemeinschaftsstrukturen und die Förderung von alltagsorientierten Ressourcen. Auf der nächsten Ebene finden sich gemeindebasierte psychosoziale Unterstützungsformen³, wie Selbsthilfegruppen, Resilienzfördernde Programme und niederschwellige Beratungsangebote. Spezialisiertes psychologisches oder psychiatrisches Fachpersonal wird in der Regel erst auf den höheren Interventionsebenen eingesetzt, etwa zur Behandlung schwerer psychischer Störungen⁴ oder zur traumaorientierten Psychotherapie⁵.
Die Zielsetzungen von MHPSS umfassen mehrere Ebenen. Zum einen geht es um die unmittelbare Stabilisierung akuter Belastungssituationen und die Förderung psychischer Sicherheit. Zum anderen sollen langfristige Resilienzfaktoren und soziale Unterstützungsnetzwerke gestärkt werden. Dabei wird besonderer Wert auf die Stärkung der Autonomie und Selbstwirksamkeit Betroffener gelegt. MHPSS integriert dabei Erkenntnisse der traumasensiblen Arbeit, der gemeindebasierten Gesundheitsförderung und der kultursensiblen psychosozialen Intervention. Ziel ist stets die Verbesserung des gesamtpsychischen Wohlbefindens⁶ und die Verhinderung von Chronifizierung oder sekundären Folgestörungen.
Im deutschen Kontext hat die MHPSS-Terminologie in den letzten Jahren zunehmend Einzug in die Fachwelt der PSNV gefunden. Während der Begriff PSNV (Psychosoziale Notfallversorgung) in Deutschland traditionell vor allem den rettungsdienstlichen, behördlichen und kirchlichen Bereich prägte, öffnet die Orientierung an MHPSS das Feld stärker für internationale Standards und für gemeindebasierte Ansätze. In der Bundesarbeitsgemeinschaft PSNV und in den aktuellen Leitlinien wird MHPSS zunehmend als Referenzrahmen genutzt. Dies führt auch zu einer vermehrten Integration traumasensibler, kultursensibler und diversitätsoffener Interventionselemente in die Praxis der PSNV.
International ist MHPSS heute in nahezu allen größeren humanitären Leitlinien und Strategien verankert. Beispielhaft sei hier das Inter-Agency Standing Committee (IASC) Guidelines on Mental Health and Psychosocial Support in Emergency Settings genannt. Diese Leitlinien definieren ein umfassendes Schichtenmodell von Interventionen, das von Basisunterstützung bis zur hochspezialisierten Versorgung reicht. In vielen Ländern des globalen Südens, aber auch in westlichen Katastrophenschutzstrukturen, orientieren sich MHPSS-Programme an diesen Standards. Dabei zeigt sich, dass eine flexible Anpassung an kulturelle, soziale und infrastrukturelle Gegebenheiten essenziell ist. Besonders bedeutsam ist die konsequente Integration von MHPSS in übergeordnete Gesundheits-, Bildungs- und Schutzsysteme. Eine isolierte Betrachtung psychosozialer Hilfen wird heute als unzureichend angesehen. MHPSS setzt vielmehr auf intersektorale Kooperation, etwa mit der Primärversorgung, mit Schulsystemen und mit Gemeinde-strukturen. Diese ganzheitliche Perspektive fördert nachhaltige Wirkungen und reduziert die Gefahr einer Fragmentierung der Hilfssysteme. Herausforderungen bestehen weiterhin in der Operationalisierung und der einheitlichen Evaluation von MHPSS-Interventionen. Obwohl viele Wirkfaktoren empirisch gut belegt sind, ist die Evidenzlage in heterogenen Notfall- und Krisensettings methodisch anspruchsvoll. Darüber hinaus bleibt die Frage der angemessenen Qualifizierung von MHPSS-Personal ein zentrales Thema. In Deutschland stehen hier insbesondere die Qualifizierung von Einsatzkräften der PSNV sowie von Schlüsselpersonen in Gemeindestrukturen im Fokus.
Begriffserklärungen
¹ Psychische Gesundheit: Zustand des vollständigen Wohlbefindens in psychischer, emotionaler und sozialer Hinsicht, nicht nur das Fehlen von psychischer Erkrankung.
² Psychosoziale Ressourcen: Individuelle und soziale Faktoren, die die Bewältigung von Belastungen und die Erhaltung von Wohlbefinden fördern.
³ Gemeindebasierte psychosoziale Unterstützung: Interventionsformen, die auf vorhandenen Gemeinschaftsstrukturen und sozialen Netzwerken aufbauen.
⁴ Psychische Störungen: Klinisch relevante, diagnostizierbare Veränderungen von Erleben, Verhalten und psychischer Funktion.
⁵ Traumaorientierte Psychotherapie: Psychotherapeutische Methoden, die gezielt auf die Bearbeitung und Integration traumatischer Erfahrungen ausgerichtet sind.
⁶ Gesamtpsychisches Wohlbefinden: Subjektiv erlebter Zustand innerer Balance, Zufriedenheit und psychosozialer Funktionsfähigkeit.
Literaturnachweis
Inter-Agency Standing Committee (IASC): IASC Guidelines on Mental Health and Psychosocial Support in Emergency Settings. Geneva, 2007.
World Health Organization (WHO): Mental Health and Psychosocial Well-being in Humanitarian Emergencies. Geneva, 2021. ISBN 978-92-4-003078-9.
Inter-Agency Reference Group on MHPSS: MHPSS Minimum Service Package. Geneva, 2019.
Deutsches Rotes Kreuz, Bundesarbeitsgemeinschaft PSNV: Leitlinien zur Psychosozialen Notfallversorgung in Deutschland. Berlin, 2020.
Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN): Psychische Gesundheit in Krisen und Katastrophen. Berlin, 2019. ISBN 978-3-89862-931-4.
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ): Guiding Framework for Mental Health and Psychosocial Support (MHPSS) in Development Cooperation. Bonn, 2018.
Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ): Mental Health and Psychosocial Support (MHPSS) in the Middle East. Bonn, 2025.