top of page

Routine rettet Leben

  • Autorenbild: Nic
    Nic
  • 15. Juni
  • 4 Min. Lesezeit
Training

Warum Basiskompetenz im Einsatz gezielt trainiert werden muss


Professionelles Handeln unter extremen Bedingungen ist kein spontaner Akt. Es ist weder Ausdruck intuitiver Genialität noch ein Produkt bloßer Charakterstärke, sondern das Ergebnis konsequenter Vorbereitung, kontinuierlicher Übung und verinnerlichter Verantwortung. In der präklinischen Notfallversorgung und im Katastrophenschutz entscheidet sich die Qualität der Maßnahme nicht im Moment der Ausführung, sondern in der Tiefe der zuvor etablierten Handlungsschemata. Handlungskompetenz ist kein theoretisches Konstrukt, sondern ein körperlich fundierter Prozess. Sie entsteht im Zusammenspiel aus kognitiver Steuerung, sensorischer Integration und motorischer Konsolidierung.


In einer akuten Einsatzsituation erfolgt eine neurobiologische Umverteilung zentralnervöser Steuerungsfunktionen. Das sympathische Nervensystem¹ dominiert die physiologische Reaktionslage, während der präfrontale Cortex² als Ort exekutiver Kontrolle zunehmend deaktiviert wird. Parallel aktiviert sich das limbische System³, welches vorrangig emotionale und vegetative Reize verarbeitet. In diesem funktionellen Ausnahmezustand verliert das deklarative Gedächtnis⁴ seine Abrufbarkeit. Zugänglich bleiben lediglich automatisierte Handlungsmuster des prozeduralen Gedächtnisses⁵, das als neurokognitiver Speicher implizit gelernter Fertigkeiten fungiert.


Diese prozeduralen Kompetenzen entstehen ausschließlich durch Wiederholung. Wiederholte Exposition gegenüber spezifischen Reiz-Reaktions-Konfigurationen führt zur myelinbasierten Stabilisierung synaptischer Netzwerke. Dabei ist die Kontextualisierung des Trainings entscheidend: Nur wenn das Übungsszenario dem realen Einsatz in affektiver, sensorischer und sozialer Hinsicht hinreichend ähnelt, erfolgt eine konsolidierte Gedächtnisverankerung. Relevante situative Parameter sind unter anderem akustische Kulisse, visuelle Dynamik, soziale Interaktionen und affektive Druckverhältnisse.


Routine entfaltet nicht nur behaviorale Effekte, sondern wirkt als psychoprotektiver Faktor. Die durch sie vermittelte Handlungssicherheit reduziert das subjektive Erleben von Kontrollverlust, fördert die Internalisierung von Selbstwirksamkeit⁶ und stabilisiert die affektive Kohärenz in kritischen Lagen. Damit erhöht sich die individuelle Resilienz gegen akute Überforderung und posttraumatische Folgestörungen.

Ein Mangel an routinierter Handlungssicherheit wirkt dagegen vulnerabilisierend. Fehleranfälligkeit, verlängerte Reaktionslatenzen und affektive Destabilisierung sind typische Folgen fehlender Automatismen. Dabei betreffen die Auswirkungen nicht nur technische Aspekte, sondern auch kommunikative Kohärenz, kognitive Priorisierung und interpersonelle Responsivität. Besonders in hochdynamischen Einsatzlagen potenzieren sich Unsicherheiten wechselseitig und beeinträchtigen die Systemstabilität.


Neurokognitive Studien zeigen, dass erlernte Fertigkeiten bei ausbleibender Repetition regressiv dekompensieren. Dieses als Skill Decay⁷ bezeichnete Phänomen tritt unabhängig vom Ausbildungsniveau auf. Auch erfahrene Einsatzkräfte verlieren bei ausbleibendem Training an Präzision, Handlungsstabilität und Sicherheit. Besonders basale Maßnahmen sind hiervon betroffen, da sie häufig als selbstverständlich vorausgesetzt und deshalb vernachlässigt werden.


Routine wirkt überdies strukturstabilisierend im Gruppensystem. Sichere Einzelfähigkeiten erzeugen kollektive Verlässlichkeit und fördern die Kohärenz im Einsatzteam. Unsicherheit, zögerliches Agieren und technische Fehler können hingegen als dysfunktionale Signale die Teamdynamik irritieren und die interpersonelle Vertrauensbasis schwächen. In einsatzkritischen Phasen wird der stabilisierende Effekt gegenseitiger Handlungssicherheit zur essenziellen Ressource.


In der Realität vieler Organisationen zeigt sich jedoch eine deutliche Disparität zwischen Anspruch und Praxis. Basiskompetenzen werden strukturell unterbewertet, praktische Übungsformate durch theorielastige Inhalte ersetzt. Häufig fehlen verbindliche Trainingspläne, klar definierte Übungsintervalle und eine lernförderliche Fehlerkultur. Dabei bildet gerade die permanente Repetition grundlegender Fertigkeiten die Basis für eine stabile Einsatzperformance.


Der Aufbau einer lernförderlichen Trainingskultur beginnt mit der Einsicht, dass Handlungssicherheit nicht über Appelle entsteht, sondern durch inkorporierte Praxis. Effektive Formate sind zum Beispiel kurze Mikroübungen, realitätsnahe Simulationen, reflexionsbasierte Einsatznachbesprechungen und individualisiertes Feedback. Entscheidend ist nicht der Umfang, sondern die Wiederholungsfrequenz, die Kontextnähe und die Integration in den Alltag.


Spezifische Wirkung entfalten Trainingsformate, die über rein technische Abläufe hinausgehen. Die Einbindung kommunikativer, interaktioneller und emotionaler Elemente ist essenziell. Dazu zählen unter anderem Deeskalationsstrategien, Interaktion mit hochbelasteten Betroffenen, die affektive Selbststeuerung sowie das Führungsverhalten in Belastungslagen. Diese Aspekte sind für eine humane und funktionale Hilfskultur unverzichtbar.


Routine darf in diesem Zusammenhang nicht mit repetitiver Stagnation verwechselt werden. Ziel ist die kontextsensible Verankerung generalisierbarer Handlungsmuster. Wer übergeordnete Prinzipien und schematische Entscheidungsstrategien internalisiert hat, kann auch in nicht trainierten Lagen adaptiv reagieren. Dies steigert die Handlungskompetenz unter Ambiguität und reduziert das Risiko psychischer Blockaden.


Langfristig ist eine lernförderliche Organisationskultur erforderlich, die Irritationen zulässt, Unsicherheiten adressiert und Fehler als Entwicklungsimpulse versteht. Führungskräfte sind gefordert, strukturelle Voraussetzungen für kontinuierliches Lernen zu schaffen. Dies umfasst unter anderem die Bereitstellung von Trainingsressourcen, die Öffnung für kritische Reflexion und eine transparente Fehlerkommunikation.

Was im Einsatz als spontane Souveränität erscheint, ist in Wahrheit Ausdruck tief verankerter Kompetenz. Diese Kompetenz basiert auf systematischem Training, somatischer Einübung und professioneller Haltung. Basiskompetenz ist nicht trivial, sondern konstitutiv. Sie ist das Fundament jeder effektiven Hilfeleistung und der beste Schutz für Leib, Leben und Psyche der Beteiligten.


Fußnoten

¹ Sympathisches Nervensystem: Teil des vegetativen Nervensystems, das unter akuter Belastung aktiviert wird und körperliche Stressreaktionen vermittelt.

² Präfrontaler Cortex: Gehirnstruktur, die exekutive Funktionen wie Planung, Impulskontrolle und logisches Denken steuert.

³ Limbisches System: Funktionelle Einheit des Gehirns, zuständig für Emotionen, vegetative Regulation und die affektive Bewertung von Reizen.

⁴ Deklaratives Gedächtnis: Speicherform für bewusst abrufbare Fakten, Ereignisse und Bedeutungsinhalte.

⁵ Prozedurales Gedächtnis: Form des Langzeitgedächtnisses, in dem automatisierte Handlungsabläufe unbewusst gespeichert sind.

⁶ Selbstwirksamkeit: Subjektive Überzeugung, auch herausfordernde Situationen aus eigener Kraft bewältigen zu können.

⁷ Skill Decay: Rückgang zuvor gelernter praktischer Fertigkeiten infolge mangelnder Wiederholung oder Anwendung.


Literaturverzeichnis

Arnsten, Amy F. T.

Stress signalling pathways that impair prefrontal cortex structure and function. In: Nature Reviews Neuroscience, Band 10, Heft 6, 2009, S. 410–422.


Bandura, Albert

Self-Efficacy. The Exercise of Control. W. H. Freeman and Company, New York 1997, ISBN 978-0-7167-2850-4.


Bonanno, George A.

Loss, trauma, and human resilience. In: American Psychologist, Band 59, Heft 1, 2004, S. 20–28.


Ericsson, K. Anders / Krampe, Ralf T. / Tesch-Römer, Clemens

The role of deliberate practice in the acquisition of expert performance. In: Psychological Review, Band 100, Heft 3, 1993, S. 363–406.


Fields, R. Douglas

White matter in learning, cognition and psychiatric disorders. In: Trends in Neurosciences, Band 31, Heft 7, 2008, S. 361–370.


Lazarus, Richard S. / Folkman, Susan

Stress, Appraisal, and Coping. Springer Publishing Company, New York 1984, ISBN 978-0-8261-4191-0.


LeDoux, Joseph E.

Emotion circuits in the brain. In: Annual Review of Neuroscience, Band 23, 2000, S. 155–184.


Schmidt, Richard A. / Lee, Timothy D.

Motor Control and Learning. A Behavioral Emphasis. 5. Auflage, Human Kinetics, Champaign 2011, ISBN 978-0-7360-7961-7.


Schwarzer, Ralf

Selbstwirksamkeit und Handlungskontrolle. Impulse aus Psychologie und Pädagogik. Hogrefe Verlag, Göttingen 1993, ISBN 978-3-8017-0661-7.


Squire, Larry R.

Memory systems of the brain: A brief history and current perspective. In: Neurobiology of Learning and Memory, Band 82, Heft 3, 2004, S. 171–177.


Thayer, Julian F. / Lane, Richard D.

A model of neurovisceral integration in emotion regulation and dysregulation. In: Journal of Affective Disorders, Band 61, Heft 3, 2000, S. 201–216.


Tulving, Endel / Thomson, Donald M.

Encoding specificity and retrieval processes in episodic memory. In: Psychological Review, Band 80, Heft 5, 1973, S. 352–373.


Weinert, Franz E.

Lehren und Lernen mit Texten. Beltz Verlag, Weinheim 1996, ISBN 978-3-407-25276-3.

 
 

Feuerwehr / Rettungsdienst 112

Polizei 110

Frauennotruf 116 016

Sicherer Heimweg Telefon 030 12074182

Telefonseelsorge 0800 - 1110111

Giftnotruf NRW 0228-19240

Apotheken Notdienst 0800 00 22 8 33

Notfall-Informations- und Nachrichten-App des Bundes
neuroFOKUS
offizielle Notruf-App der Bundesländer
© by sos.nrw
bottom of page