Überforderung bei Einsatzkräften erkennen
- Nic
- 27. Mai
- 3 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Juni
Einsatzkräfte sind in ihrem Alltag regelmäßig mit Extremsituationen konfrontiert. Was sie erleben, ist kein gewöhnlicher Stress, sondern häufig eine wiederholte Konfrontation mit menschlichem Leid, Tod, Chaos oder existenzieller Bedrohung. Diese Anforderungen können psychisch, körperlich und sozial überfordern. Dabei sind die frühen Anzeichen oft nicht laut, sondern leise. In diesem Beitrag geht es darum, wie Überforderung bei Einsatzkräften erkannt werden kann, warum das so entscheidend ist und welche fachlichen Grundlagen in der Psychologischen Ersten Hilfe hilfreich sind.

Belastungsrealität im Einsatzdienst
Die Arbeitsrealität von Feuerwehr, Rettungsdienst, Polizei, Katastrophenschutz und ähnlichen Berufsgruppen ist durch einen hohen Druck geprägt. Aktuelle Studien zeigen, dass psychosoziale Belastungen in diesen Tätigkeitsfeldern signifikant häufiger zu Erschöpfungssymptomen führen als in vielen anderen Berufsgruppen. Entscheidende Belastungsfaktoren sind insbesondere die fehlende Vorhersehbarkeit von Ereignissen, die geringe Kontrollierbarkeit in kritischen Situationen, die moralische Last bei schwierigen Entscheidungen sowie die körperliche Daueranspannung während des Einsatzes.
Langfristig kann sich diese Belastung in Form von Burnout, sekundärer Traumatisierung oder einer tiefgreifenden Erschöpfungsdepression äußern. Besonders tückisch ist, dass viele Symptome anfangs kaum auffallen oder gesellschaftlich sogar als Teil der Berufsethik fehlgedeutet werden. Wer durchhält, nicht klagt und stets funktioniert, gilt oft als stark. Doch genau hier beginnt das Risiko...

Anwendung in der Psychologischen Ersten Hilfe
Psychologische Erste Hilfe bedeutet auch, auf Kolleginnen und Kollegen zu achten, wenn die Kräfte nachlassen. PEH richtet sich nicht nur an Betroffene von akuten Notfällen, sondern auch an Helfende, die durch wiederholte Belastung selbst zu Betroffenen werden können.
Ein zentraler Begriff in der Anwendung ist der psychologische Schutzraum. Damit ist jede Situation oder Struktur gemeint, die eine vorübergehende emotionale, soziale und psychische Entlastung ermöglicht. Es geht darum, einem Menschen nach starker Belastung sicher, urteilsfrei und achtsam zu begegnen, sodass sich seine innere Regulation wieder stabilisieren kann.
Fachlich gemeint sind damit unter anderem:
ein ungestörter Raum oder neutraler Ort für ein vertrauliches Gespräch
das bewusste Abschirmen von äußeren Reizen wie Handy, Funk oder ständiger Ansprache
eine Gesprächsatmosphäre ohne Bewertung, ohne Zeitdruck, ohne funktionale Erwartung
ein Rahmen, in dem Gefühle zugelassen werden dürfen, ohne Rolle erfüllen zu müssen
eine innere Haltung, die Präsenz signalisiert, ohne Druck auszuüben
In der PEH und PSNV spricht man von einem sicheren Raum, der nicht durch Wände entsteht, sondern durch Beziehung, Struktur und achtsame Haltung. Dieser Raum kann auch symbolisch sein, etwa durch ein ruhiges Gespräch im Auto nach dem Einsatz, eine geschützte Pause oder die spürbare Einladung: Hier darf ich ehrlich sein.
Darüber hinaus empfiehlt PEH:
Veränderungen im Verhalten frühzeitig wahrzunehmen
empathisch und direkt anzusprechen
Entlastung zu ermöglichen, ohne Kontrolle oder Misstrauen
weiterführende Hilfe anzubieten, wenn das Belastungsniveau über die eigene Begleitfähigkeit hinausgeht
Häufige Herausforderungen und Irrtümer
Viele Einsatzkräfte glauben, ihre Überforderung sei ein persönliches Versagen. Dieser Gedanke ist tief verwurzelt in beruflichen Idealen wie Belastbarkeit, Pflichtgefühl und Teamtreue. Aussagen wie "Das gehört eben dazu" oder "Du musst damit klarkommen" verstärken diesen inneren Druck.
Fachlich betrachtet ist jedoch klar: Überforderung ist keine Schwäche, sondern eine gesunde Reaktion auf eine dauerhaft überfordernde Umgebung. Wer über längere Zeit unter hoher psychischer Anspannung steht, ohne Regeneration, ohne Verarbeitung und ohne soziale Spiegelung, reagiert irgendwann mit Symptomen der Erschöpfung. Das ist kein persönliches Scheitern, sondern Ausdruck funktionierender Selbstregulation. PEH nimmt diese Signale ernst und bietet konkrete Wege an, um Stabilität zurückzugewinnen, bevor es zu Spätfolgen kommt.
Praxis und kollegiale Reflexion
Um Überforderung frühzeitig zu erkennen und professionell zu begleiten, braucht es mehr als Einzelwissen. Entscheidend ist eine Kultur, die psychische Belastung ernst nimmt und mitträgt.
Die folgenden Schritte haben sich in der Praxis bewährt:
regelmäßige Supervision und strukturierte Nachbesprechung von Einsätzen
offene Gesprächsangebote innerhalb und außerhalb des Teams, auch präventiv
eine gelebte Pausenkultur, die Erholung als Teil der Einsatzfähigkeit versteht
gezielte Schulungen zu Burnout, sekundärer Traumatisierung und Resilienz
Führungskräfte, die psychische Gesundheit zur Chefsache machen
systematische Integration von PEH-Inhalten in Aus- und Fortbildung
Auch die Einrichtung von Peer-Strukturen oder geschulten Ansprechpersonen im Team kann helfen, Hemmschwellen zu senken. Schriftliche Selbstchecks oder Reflexionskarten aus sind ein ergänzendes Mittel zur Selbsteinschätzung.
Wer Überforderung früh erkennt, handelt nicht aus Schwäche, sondern aus Verantwortung. Die Arbeit im Einsatz verlangt viel. Damit sie auf Dauer tragfähig bleibt, braucht es Räume der Entlastung, Worte ohne Urteil und ein Umfeld, das Menschsein erlaubt.
Literaturempfehlung
Petzold, Erich W.: Psychotraumatologie. Grundlagen. Diagnostik. Interventionen. Göttingen: Hogrefe Verlag, 2020. ISBN 978-3-8017-2995-4
Figley, Charles R. (Hrsg.): Compassion Fatigue. Coping with Secondary Traumatic Stress Disorder in Those Who Treat the Traumatized. New York: Brunner Mazel, 1995. ISBN 978-0876307595
Bohleber, Wolfgang: Trauma. Gedächtnis. Wiederholung. Eine psychoanalytische Spurensuche. Gießen: Psychosozial Verlag, 2018. ISBN 978-3-8379-2811-7
World Health Organization: Psychological First Aid. Guide for Field Workers. Geneva: WHO Press, 2011. ISBN 978-92-4-154820-5